Pflegen ohne Pflicht? Wie es pflegenden Angehörigen in Skandinavien geht

Wer in Deutschland pflegt, kennt das Gefühl: Man rutscht hinein. Oft schleichend, manchmal abrupt. Aus Nähe wird Verantwortung, aus Verantwortung Überforderung – und aus dem eigenen Leben eine Nebensache. Pflege gilt hierzulande noch immer als etwas, das „man halt macht“, wenn es nötig wird.

Wer kennt es nicht – eben noch waren Mutter, Vater oder Großeltern noch fit – dann plötzlich können sie nicht mehr sicher gehen oder ein OP stand an und danach kamen sie nicht mehr auf die Beine. Eine Pflegesituation kann sehr plötzlich entstehen und die Angehörigen total überfordern.

Wir haben zwar einen Sozialstaat und im Krankenhaus bemüht sich der soziale Dienst, trotzdem hapert es an allen Ecken und Enden. Sei es auf Seiten der Ärzte, die hilflose Personen einfach aus dem Krankenhaus entlasten, nach dem Motto „Wird sich schon jemand drum kümmern“. Seien es andere Behörden, vor allem die Krankenkassen, die sehr  gerne einfach nur genervt auf Pflegende Angehörige reagieren.

Immer wieder kommt es zu haarsträubenden Situationen, in denen meist alte Menschen von jetzt auf gleich pflegebedürftig sind, aber niemand so recht zuständig ist. Für diese Fälle springen dann oft Pflegeheime ein, mit ihrem Angebot an Kurzzeitpflege. Aber das ist nach einigen Wochen zu Ende und es muss eine Lösung gefunden werden. Entweder ist die betroffene Person dann wieder einigermaßen fit – oder eben nicht!

Was damit gesagt werden soll: Die Pflegesituation kann buchstäblich über Nacht kommen. Und sie bleibt in Deutschland schwer für die Betroffenen. Daher schauen wir gerne mal in andere Länder, wie die das so lösen. Heute gucken wir uns Skandinavien insgesamt an und dann geht es nach Schweden.

Skandinavien: Pflege als Aufgabe der Gesellschaft – nicht der Familie

In Ländern wie Schweden, Norwegen oder Dänemark wird Pflege grundsätzlich als öffentliche Aufgabe verstanden. Der Staat greift früh ein: nicht erst dann, wenn Angehörige am Limit sind, sondern oft schon bei ersten Einschränkungen im Alltag.

Das bedeutet konkret:

  • Hilfe im Haushalt, ambulante Pflege oder Tagesangebote kommen früh zum Einsatz
  • Pflege wird besser organisiert, geplant, koordiniert
  • Angehörige werden gefragt – aber nicht selbstverständlich in die Pflicht genommen

Pflege ist dort weniger ein moralischer Test der Familie, sondern Teil des Sozialstaats.

Angehörige zwischen Entlastung und innerer Freiheit

Für viele Angehörige bedeutet das zunächst etwas sehr Wertvolles: Entlastung ohne Rechtfertigung.

Niemand muss erklären, warum er nicht selbst pflegt.
Pflegende Angehörige dürfen Angehörige bleiben – Töchter, Söhne, Partner:innen – ohne gleichzeitig Pflegekraft zu sein. Nähe und Beziehung müssen nicht durch körperliche Erschöpfung erkauft werden.

Für ehemalige Pflegende wirkt das fast befremdlich. Und gleichzeitig wohltuend.

Wenn Pflege nicht mehr selbstverständlich ist

Doch diese Entlastung hat auch eine leise Kehrseite. Weil Pflege in Skandinavien stärker professionalisiert ist, wird sie weniger sichtbar. Viele Angehörige berichten nicht von Überforderung – sondern von etwas anderem: einem Gefühl, außen vor zu stehen.

  • Entscheidungen treffen Fachstellen
  • Pflege findet strukturiert, organisiert, sachlich statt
  • Angehörige sind beteiligt, aber nicht im Zentrum

Manche empfinden das als Befreiung. Andere als Verlust von Bedeutung und Entmachtung. Pflege stiftet hier keine Identität, keinen gesellschaftlichen Status, keine „Opferrolle“ – aber auch keine besondere Anerkennung. Allerdings haben wir diese in Deutschland ja auch nicht.

Was in Skandinavien auffällt: Es gibt weniger Schuldgefühle. Pflege ist kein stilles Heldentum, sondern eine Dienstleistung. Das schützt viele Menschen vor Überlastung und es strapaziert die familiären Bindungen weniger

Einsamkeit trotz guter Versorgung

Ein weiteres Paradox: Obwohl die pflegerische Versorgung in Skandinavien gut ist, bleibt Einsamkeit im Alter ein Thema. Gerade weil Familie nicht automatisch eingebunden ist, kann Nähe fehlen – nicht körperlich, sondern emotional.

Gute Pflege ist halt auch mehr als funktionierende Abläufe. Sie braucht Beziehung. Und Beziehung lässt sich nicht staatlich verordnen.

Was dieser Blick für uns bedeutet

Skandinavien zeigt, dass Pflege auch anders gedacht werden kann:

  • weniger Zwang
  • weniger Schuld
  • weniger Überforderung

Aber auch:

  • mehr Distanz
  • weniger familiäre Selbstverständlichkeit
  • andere Formen von Einsamkeit

Da stellt sich natürlich schon die Frage:

Warum müssen pflegende Angehörige bei uns oft alles tragen – und gleichzeitig um Unterstützung kämpfen?
Warum wird Pflege entweder zur Pflicht oder zur Dienstleistung, aber selten zu einer geteilten Verantwortung?

Die beklagte Einsamkeit ist ein Thema, das man hier auch noch mal aufgreifen muss. Fakt ist: Senioren fühlen sich auch oft inmitten von anderen Menschen, auch der eigenen Familie einsam. Wer hat es nicht erlebt, das Oma oder Opa unbeteiligt am Tisch sitzen, während die anderen spielen, laut diskutieren, feiern? Manchmal sind es körperliche Leiden oder die Demenz, die sie ausschließen. Manchmal ist es aber auch das altersentsprechende Desinteresse an zu viel Trubel.

Oft kann man als Pflegender Angehörige wirklich alles versuchen, um das Gefühl der Einsamkeit der Senioren zu bekämpfen, muss dann aber realisieren: Es hat nicht immer mit dem Mangel an sozialen Kontakten, an Zuwendung und Mitmach-Aktionen zu tun, sondern es ist das Wesen des alternden Menschen, dass er sich zurückzieht.

Gerade, wer selbst gepflegt hat und alleine oder mit anderen Personen jemanden 24h versorgt hat, weiß, dieses merkwürdige Gefühl der „Einsamkeit“ der Pflegebedürftigen bleibt und das hat vielleicht mehr damit zu tun, dass der alternde Mensch, sich von „sich selbst“ und seinem alten Leben verlassen fühlt, als  von anderen. Dies aber kann nicht mehr verstanden, analysiert werden und so geht der Blick und Vorwurf eher nach außen.

 

Wir schauen im nächsten Beitrag, wie es in Schweden läuft.

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Symbolleiste für Barrierefreiheit