80 Gesichter der Demenz – Warum die Krankheit so oft unerkannt bleibt

 

Wenn wir von Demenz sprechen, denken viele an Alzheimer. Doch tatsächlich gibt es rund 80 verschiedene Demenzformen – und genau das macht die Diagnose so schwierig. Jede dieser Formen äußert sich anders, entwickelt sich unterschiedlich schnell und betrifft nicht immer das Gedächtnis zuerst. Manche verändern das Verhalten, andere die Sprache oder die Motorik.

Das unsichtbare Puzzle

Ärzte und Therapeuten stehen vor einer enormen Herausforderung: Die Symptome vieler Demenzarten überschneiden sich mit Depressionen, Altersvergesslichkeit, Medikamentennebenwirkungen oder neurologischen Störungen. Eine eindeutige Diagnose ist oft erst nach Jahren – manchmal überhaupt nicht – möglich.

Selbst spezialisierte Fachärzte können an Grenzen stoßen, denn nicht jede Demenz zeigt sich im MRT oder durch einfache Gedächtnistests. Besonders seltene Formen, wie die frontotemporale Demenz oder die Lewy-Körperchen-Demenz, werden häufig erst erkannt, wenn die Veränderungen im Verhalten oder die Halluzinationen für die Angehörigen kaum noch auszuhalten sind.

Verschiedene Symptome von Demenz – mehr als nur Vergesslichkeit

Demenz kann sich auf unzählige Arten zeigen. Während die klassischen Anzeichen den meisten bekannt sind, bleiben die subtileren, oft ersten Veränderungen lange unbemerkt.

Klassische Symptome

  • Vergesslichkeit (z. B. Namen, Termine, Alltagsroutinen)
  • Orientierungslosigkeit in Zeit und Raum
  • Schwierigkeiten beim Sprechen oder Verstehen
  • Verlust von Alltagsfähigkeiten (z. B. Kochen, Geld verwalten)
  • Probleme beim Planen und Organisieren
  • Wiederholtes Fragen oder Erzählen derselben Dinge

Weniger bekannte oder „versteckte“ Symptome

Veränderungen in Verhalten und Persönlichkeit

  • Plötzliche Gleichgültigkeit oder Teilnahmslosigkeit
  • Verlust von Empathie – der Mensch wirkt „emotional kalt“
  • Enthemmtes oder taktloses Verhalten
  • Gereiztheit oder Wutausbrüche ohne erkennbaren Grund
  • Misstrauen oder Verfolgungsgefühle gegenüber Angehörigen

Wahrnehmungs- und Sinnesstörungen

  • Halluzinationen (v. a. bei Lewy-Körperchen-Demenz)
  • Verwechslung von Personen oder Räumen
  • Schwierigkeiten, Entfernungen und Bewegungen richtig einzuschätzen
  • Empfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen oder Berührung

Körperliche und motorische Veränderungen

  • Unsicherer Gang oder häufiges Stolpern
  • Muskelzittern oder steife Bewegungen
  • Schluckstörungen
  • Veränderung des Schlaf-Wach-Rhythmus (nächtliche Unruhe, Tagesmüdigkeit)

Emotionale und psychische Symptome

  • Plötzliche Angstzustände oder Panik
  • Depressionen oder sozialer Rückzug
  • Übersteigerte Fröhlichkeit, die unpassend wirkt
  • Zwanghaftes Verhalten (z. B. Sammeln, sich wiederholende Handlungen)

Kognitive Besonderheiten, die oft übersehen werden

  • Verlust des Zeitgefühls, aber gutes Kurzzeitgedächtnis
  • Sprachliche „Umwege“ – Worte werden umschrieben statt genannt
  • Schwierigkeiten, Ironie oder Humor zu verstehen
  • Fixierung auf bestimmte Themen oder Erinnerungen

Angehörige zwischen Sorge und Hilflosigkeit

Wenn die Medizin keine klare Antwort liefert, bleiben die Angehörigen oft allein zurück. Sie erleben täglich, dass „etwas nicht stimmt“, doch niemand scheint ihnen zu glauben. Aussagen wie „Das ist nur das Alter“ oder „Das wird schon wieder“ können verletzen und verunsichern. Während sie versuchen, den Alltag zu bewältigen, kämpfen sie mit Zweifeln, Schuldgefühlen und wachsender Erschöpfung.

Noch schlimmer ist es, wenn sogar Ärzte oder Therapeuten behaupten, der Angehörige hätte gar keine Demenz, weil sie sich in ihrem Beisein nicht so zeigt. Das bedeutet, die Angehörigen müssen mit der totalen Persönlichkeitsveränderung der betroffenen Person und allen anderen Schwierigkeiten klarkommen und das Fachpersonal zeigt nicht nur kein Verständnis, sondern hilft zudem auch nicht.

Ein Aufruf zu mehr Bewusstsein

Demenz ist kein einheitliches Krankheitsbild, sondern ein komplexes Spektrum. Deshalb braucht es mehr Aufklärung, bessere Diagnostik und mehr Sensibilität – auch im medizinischen Umfeld. Wer früh verstanden wird, kann rechtzeitig unterstützt werden.

Doch solange viele Formen der Demenz unerkannt bleiben, tragen vor allem die Angehörigen die Last. Sie sind diejenigen, die das erste Anzeichen bemerken – und die, die am meisten Verständnis und Begleitung brauchen.

Vor allem aber ist es für die Angehörigen leichter, wenn sie ein treffende Diagnose bekommen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sehr meine Mutter gelitten hatte, als ihre Mutter, also meine Großmutter, emotional immer unbeteiligter wurde. Und ihr, also der eigenen Tochter gegenüber, gar kein Mitgefühl und Interesse mehr gezeigt hatte. Das war in den 80er und 90er Jahren, wo noch kaum jemand sich mit Demenz auskannte.

Das bedeutete, meine Mutter bezog das  veränderte Verhalten auf sich und ihre Beziehung zu ihrer Mutter und litt sehr darunter. Die Pflege war ein täglicher, aussichtsloser Kampf. Hätte sie mehr über Demenz erfahren, so hätte sie besser damit umgehen können. Sie hätte sich selbst weniger stressen müssen und auch nachsichtiger sein können.

Damals war es so arg, dass das typische Demenzverhalten nicht mal im Krankenhaus richtig erkannt wurde. Wir als Familie hatten das Gefühl, unsere Oma wäre „verrückt“ geworden, das Verhalten erinnert ja auch daran. Wenn man aber versteht, dass es eine Krankheit ist, die einfach solche Symptome hervorruft (auch das Schlüsselsuchen und Familienangehörige des Klauens verdächtigen kannte man damals nicht als typisch), können alle viel besser damit umgehen.

Und noch etwas: Für Nichtbetroffene, also solche, die mit keiner demenzkranken Person zu tun haben, ist Demenz nur ein medizinischer Fachbegriff. Inzwischen kennt ihn jeder und auch einige Symptome. Für die Angehörigen aber ist es ein 24-h-Problem und das das ganze Jahr.

Demenz erfordert ein ständiges Hin- und Herswitchen zwischen den eigenen Grenzen und der Hilflosigkeit und der Bedürftigkeit der Betroffenen, die agieren wie kleine Kinder, sich aber nicht mehr erziehen oder anleiten lassen und die auch keine Anweisungen mehr verstehen.

 

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